Wie funktioniert räumliches Sehen?
Beim räumlichen Sehen muss das Gehirn relativ viele Informationen verarbeiten. Da die Retina des Auges eine zweidimensionale Struktur besitzt, benötigen wir eine Reihe von Hinweisen, die dabei helfen, aus diesem 2D-Bild Informationen für eine dreidimensionale Wahrnehmung und somit räumliche Tiefe zu rekonstruieren. Dabei handelt es sich um monokulare und binokulare Tiefenhinweise, aus denen das Gehirn einen dreidimensionalen Raum errechnet.
Monokulare Tiefenwahrnehmung
Monokulare Tiefenhinweise können mit nur einem Auge wahrgenommen werden. Es gibt folgende monokulare Tiefenhinweise: Größe, Perspektive, Verdeckung, Bewegungsparallaxe, Textur, Nebel und Dunst sowie Akkommodation.
⇣ Größe
Wenn die Größe eines Objekts dem Betrachter bekannt ist, kann dieser Rückschlüsse auf die Entfernung ziehen. Dabei verhalten sich Entfernung und Größe reziprok proportional zueinander. Erscheint ein Objekt groß, dann liegt es in geringer Entfernung, erscheint es klein, dann ist die Entfernung größer.
⇣ Perspektive
Parallele Linien werden auf der Netzhaut nicht parallel abgebildet. Sie konvergieren zu einem Fluchtpunkt. Wir erleben dieses Phänomen beispielsweise bei Schienen oder Straßen, deren Ränder sich am Horizont scheinbar treffen. Da wir wissen, dass sich der Abstand der Schienen und die Breite der Straßen nicht ändern, interpretiert das Gehirn die Netzhautabbildung als Tiefenhinweis.
⇣ Verdeckung
⇣ Bewegungsparallaxe
Eine Bewegungsparallaxe (gr. parallagé „Veränderung“, „Abweichung“) entsteht bei Bewegung des Betrachters oder seines Umfelds. Abstand und Geschwindigkeit der Bewegung verhalten sich reziprok proportional zueinander.
Ein nahes Objekt zieht schneller am Betrachter vorbei als ein entferntes. Schauen wir aus einem fahrenden Zug, ziehen durchfahrene Bahnhöfe schneller an uns vorbei als Objekte in weiter Entfernung.
⇣ Textur
Je näher wir uns zu einem Objekt befinden, desto detaillierter nehmen wir dessen Oberflächenstruktur wahr. Mit zunehmendem Abstand wird diese Struktur homogener.
⇣ Nebel und Dunst
Nebel und Dunst lassen entfernte Objekte matter erscheinen und geben dadurch einen Hinweis auf die Entfernung. Diese Tatsache ist bei der Erzeugung stereoskopischer Bilder von Bedeutung.
⇣ Akkomodation (Sehschärfe)
Akkommodation ist ein okulomotorischer Reiz, also ein Reiz, der die Beweglichkeit des Auges betrifft. Die Augenlinse stellt sich auf verschiedene Entfernungen durch Brechkraftzuwachs oder Brechkraftabnahme ein.
Zum Fokussieren des Auges auf eine bestimmte Entfernung wird die Linse durch Anspannung des Ziliarmuskels verformt. Je näher die Objekte, desto größer die Anspannung. Fokussieren wir den Horizont, ist der Ziliarmuskel entspannt. Die Akkommodation ist mit der Konvergenz gekoppelt, einem binokularen Tiefenhinweis, der im Folgenden behandelt wird.
Binokulare Tiefenwahrnehmung
Für die Wahrnehmung binokularer Tiefenhinweise benötigt man beide Augen. Binokulare Tiefenhinweise sind Konvergenz und Querdisparation.
⇣ Konvergenz
Die Konvergenz (spätlateinisch convergere, sich hinneigen, zusammenneigen) ist auch ein okulomotorischer Reiz. Betrachtet der Mensch einen Punkt im Raum, so richten sich die Sehachsen auf diesen Punkt aus, sie neigen sich zueinander. Je kürzer der Abstand zum Objekt ist, desto stärker ist die Neigung. Mit zunehmender Neigung erhöht sich die Spannung der Sehmuskeln. Aus der Spannung der Sehmuskeln errechnet das Gehirn den jeweiligen Abstand eines Objekts. Blicken wir zum Horizont, verlaufen die Sehachsen parallel. Die Sehmuskeln sind entspannt. Eine Divergenz, also auseinander laufende Sehachsen, kommt beim natürlichen Sehen eigentlich nicht vor. Divergenz ist dem Menschen zwar in geringem Maße möglich, verursacht aber ein Ziehen in den Augen und Kopfschmerzen. Dies sollte bei der Aufnahme und der Darstellung stereoskopischer Inhalte unbedingt berücksichtigt werden.
⇣ Querdisparation
Als Querdisparation bezeichnet man die Verschiedenheit der Bildlage auf der rechten und der linken Netzhaut, die durch den Augenabstand (beim Menschen etwa 6 cm) entsteht. Der Augenabstand hat zur Folge, dass Bilder von Objekten auf linker und rechter Netzhaut an unterschiedlichen Stellen abgebildet werden. Fixierte Objekte werden auf der menschlichen Netzhaut auf dem Punkt mit der höchsten Sehschärfe abgebildet. Diese heißt der gelbe Fleck und befindet sich im linken Auge links von der Mitte und im rechten Auge rechts von ihr. Liegt ein Objekt hinter dem fixierten Punkt, so verschiebt sich die Abbildung auf der linken Netzhaut weiter nach links und auf der rechten entsprechend weiter nach rechts. Befindet sich ein Objekt nun aber rechts neben dem fixierten Punkt, wird es in beiden Augen links neben dem gelben Fleck und zudem an unterschiedlichen Orten auf der Netzhaut abgebildet. Bei Objekten linksseitig des fixierten Punktes geschieht die Abbildung analog rechtsseitig des gelben Flecks. Die Abstandsunterschiede zwischen dem linken und dem rechten Bild auf der Netzhaut werden als binokulare Disparität bezeichnet. Das menschliche Gehirn ist in der Lage, binokulare Disparitäten zu interpretieren und für die räumliche Wahrnehmung zu nutzen.
⇣ Horopter
Aufgrund des geringen Augenabstands ist eine binokulare Wahrnehmung nur begrenzt möglich. Im Prinzip ist diese auf den unmittelbaren menschlichen Handlungsbereich beschränkt und endet bei einer Entfernung von 6 bis 10 Metern. Treffen Bildinformationen auf korrespondierende Stellen der Netzhäute ist auch keine binokulare Wahrnehmung möglich. Der so genannte theoretische Horopter (grie: hóros, „Grenze“, und optēr, „Späher“) veranschaulicht diesen Bereich. Bei fester Augenstellung werden Dinge, die auf seiner Linie liegen, eindimensional wahrgenommen. Neben dem theoretischen Horopter existiert der tatsächlich empirische beobachtbare Horopter. Er weicht vom theoretischen Horopter leicht ab.